Was im Innersten zusammenhält

Wenn ich älter bin, will ich im Wendland leben. Ich werde einen Hof kaufen, vielleicht eine Mühle, werde mit Freunden Theater spielen und am Sonntag mit dem Rad ins selbst betitelte Königreich Diahren fahren, wo zu Kaffee und Kuchen getanzt wird. Ich werde teilhaben an dem Traum, der hier durchs Land weht – dem Traum eines selbst bestimmten Lebens, der nur fernab der Städte geträumt werden kann, unter dem sternenreichen Himmel des platten Landes. Ich war im August dieses Jahres zum ersten Mal dort.

30 Jahre ist es her, da rief die Freie Republik Wendland nach Deutschland hinein und wurde gehört – von den Medien und von Aussteigern, Widerständlern –eben denen, die eine Alternative brauchten zu Beton und dem Mief der Bürgerlichkeit. So erblühten alternde Höfe und unberührter Wiesengrund zu einer Kulturlandschaft, die von Hunderten von Freigeistern lebt und in Platenlaase ihre Mitte hat: einen lebendigen Kulturverein inmitten der strukturschwächsten Region Niedersachsens.

Als ich ins Wendland fuhr, um ländliche Kultur zu dokumentieren, musste ich kein Theater besuchen und an keiner Führung teilnehmen. Kultur ist, was der Mensch gestaltet, und so wollte ich an der Quelle beginnen: dem Menschen.

Ich besuchte den Kulturverein Platenlaase und fand in jeder dort tätigen Frau und in jedem Mann Kultur allgegenwärtig, in tausend Facetten. Sie schwingt mit in jedem ihrer Wörter und in den ruhigen Augen, die von reichen Erfahrungen sprechen. Niemand hier, das merkte ich schnell, hatte einen geraden Lebensweg. Warum all diese Wege ins Wendland führten, erfühlte ich langsamer. Ich tastete mich vor durch Gespräche, und über die vielen Stunden hinweg, die ich auf Feldwegen zwischen den einzelnen Gehöften verbrachte, begann sich ein größeres Bild abzuzeichnen. In der Abgeschiedenheit der Region mit ihren endlosen Feldern und Wäldern, durchschnitten von Kanälen, sehen die Menschen einen Kraftort, eine Rückzugsmöglichkeit, die es erst ermöglicht, ganz Mensch zu sein. Niemand ist zufällig hier – die Sehnsucht nach einem Ort der Entfaltung hat all die verschiedenen Persönlichkeiten zusammengebracht, die nun die Kultur des Landes prägen. So offenbarten sich mir Menschen und Land als unzertrennliches Gebilde, sich gegenseitig bedingend in einem Schöpfungsprozess, der viel Wunderbares hervorbringt.

Wunderbares wie die Geschichte von Caspar und Peter, die zusammen mit ihren Frauen einen großen Hof bewohnen und den Vorstand des Vereins bilden. Beide arbeiten als Drehbuchautoren und Regisseure und waren an unzähligen Produktionen vor allem wunderbarer Kinderfilme und –theaterstücke beteiligt, bis sie von Berlin ins Wendland zogen, um sich dort die Vision eines gemeinsamen Hofs mit Schafen, Gemüsegarten und einem eigenen Theatersaal zu erfüllen, der vor allem während der kulturellen Landpartie mit großartigen Stücken bespielt wird. Auch ich fand Herberge in den geräumigen Stuben dieses Hauses, während neben mir bis tief in die Nacht eine ältere Figurentheaterspielerin unermüdlich an einem Märchen probte – Fundevogel.

Ich erlebte Kultur als einen Akt des Schaffens in dem lebendigsten Zusammenhang, nicht eingepfercht in Museen oder staatlich klassifiziert, sondern in dem täglichen Umgang der Menschen miteinander. Leute gingen ein und aus. So auch Marion, eine Lehrerin und Fotografin, deren benachbarter Hof Ausstellungsort für viele Künstlergenerationen war. Von hier machte ich mich täglich auf den Weg zu den einzelnen Menschen und Orten Wendlands, meist schon im Morgengrauen. Das Wendland ist weit.

So erblickte ich die Löwenvilla im Licht der aufgehenden Sonne, wie sie vielleicht Kerstin vorfand, als sie vor vielen Jahren mit ihrem Wohnwagen dort ankam. Mit ihm war die Schauspielerin aus München viele Jahre durch Deutschland gereist, bis sie ins Wendland kam, zu diesem weithin sichtbaren, kunstvoll verzierten Fachwerkhaus. Ihr Herz steckt in dem Projekt „Terra est Vita“, einer preisgekrönten Theatergruppe bestehend aus Menschen mit Behinderung, die auf eine Europatournee hinarbeitet und die große Probebühne des Vereins als Spielort nutzt. Ihre Liebe zum Theater teilt sie mit Ursula, der einzigen „echten“ Wendländerin meiner Reise, die nach einigen Jahren andernorts zurückkehrte, um ihrem Traum an dem Ort nachzugehen, an dem sie sich verwurzelt fühlt.

Eine weitere Persönlichkeit, die das Wendland nie losgelassen hat, ist Kalle. Schon als junger Mann kaufte er sich mit Freunden einen Hof, auf der Suche nach einer Landidylle. Nur raus aus Berlin. Die Freunde gingen wieder, Kalle blieb zurück. Seit einigen Jahren schon saß er im Rollstuhl, aber der Traum blieb ungebrochen, und er machte sich zum Schäfer mit 2000 Tieren, die er umsorgte. Heute, viele Sommer später, sorgt Kalle für das Kino, die Schafe sind längst weg – doch mit seinem Schäferhund an der Seite besteht er darauf, dass das Wendland immer der richtige Ort bleiben wird, wo einzelne Menschen zusammenfinden und Teil von etwas Größerem werden können. Etwas wie Platenlaase.

Wenn ich älter bin, will auch ich im Wendland leben.

Text und Foto: Marian Lenhard