Raabe-Spektakel entlang der Innerste

Wir schlängeln uns Berge rauf, Berge runter, nach links, nach rechts, durch kleine Dörfer und noch kleinere. Als das Auto langsamer wird und an einem kleinen Straßenparkplatz hält, erwache ich aus meiner apathischen Müdigkeit. Ich befinde mich inmitten traumhafter Natur. Wir marschieren durch den Wald. Ein Bach ist zu hören. Wir sind da. Auf einer kleinen Lichtung, durch die sich die Innerste schlängelt. Ringsum schimmert das erzhaltige Gestein des Westharzes. Hier bereiten sich schon ein paar Schauspieler auf die Probe vor. Grundlage bildet die Novelle „Die Innerste“ von Wilhelm Raabe, erarbeitet wird das Stück „Innerste Blau“.

Hinter dem Theaterspektakel steht das „Netzwerk Kultur und Heimat“ aus Hildesheim. Stefan Könneke leitet das Projekt und fährt notfalls auch Fotografen zu den Proben. Drei professionelle Schauspieler bilden den Kern der Theatergruppe, Laiendarsteller aus der Harzregion komplettieren das Ensemble. Inszeniert und gespielt wird die literarische Vorlage an Originalplätzen entlang des Flusses Innerste.

Auf unserem Weg zur Probenbühne mitten im Wald fahren wir durch Wildemann im Oberharz, ein kleines ehemaliges Bergbaudorf. „Ein Wildemann kommt immer an“, lässt das Begrüßungsschild am Ortseingang wissen. Gleich daneben ein weiteres Schild mit dem Spruch: „Glück auf!“ – der traditionelle Gruß der Bergleute. Überall sind noch Relikte aus der Zeit des Bergbaus zu sehen. Am ehemaligen Stolleneingang lassen sich gerne Touristen fotografieren.

Nahe Wildemann hat die Natur ein regelrechtes Amphitheater erschaffen: Eine ebene Fläche sieht wie eine Bühne aus, an den Rändern erheben sich Böschungen. Es ist ein warmer Sommerabend, und immer mehr Wildemänner erscheinen zur Probe. Ein bunter Haufen älteren Semesters, es wird gescherzt und gelacht.

Das Spektakel „Innerste Blau“ spielt an verschiedenen Orten entlang des Innerstetals, Wildemann ist die erste Station. Hier lässt auch Raabe seine schaurige Geschichte rund um Räuberbanden, Liebe und den Siebenjährigen Krieg beginnen. Das Publikum erlebt den ersten Teil des Stücks in Wildemann an drei Originalschauplätzen der Erzählung. Inzwischen ist es dunkel geworden, die Probe ist vorbei.

Das Innerstetal scheint ein wenig aus der Zeit gefallen zu sein. Die Erzvorräte sind ausgebeutet. Der Fremdenverkehr versiegt schon seit Jahren. Die einzige Eisenbahnlinie in den Oberharz durch das Tal ist schon seit Jahrzehnten stillgelegt. Geblieben ist die Idylle des Westharzes und des Harzvorlands. Die will das „Netzwerk Kultur und Heimat“ mehr Menschen entdecken lassen. Inzwischen ersetzt ein Radweg die ehemalige Bahntrasse. „Innerste Blau“ soll Kultur in die Landschaft bringen.

An einem anderen Tag sitze ich wieder mit Stefan im Auto. Heute fahren wir zu den Proben nach Hockeln, auf einen schönen alten Bauernhof. Hockeln, ein Dorf in der Nähe von Bad Salzdetfurth, ist der zweite Spielort des Spektakels. Hier ist nicht viel los. Keine Menschenseele auf der Straße. Irgendwann biegt ein Mann auf einem alten quietschenden Damenrad langsam um die Ecke. Dann wieder Stille. Auf dem Bauernhof aber tobt das Leben. Die Darsteller singen, lachen, lallen und torkeln – so überzeugend, ich möchte ihnen die gespielte Trunkenheit fast abnehmen. Geprobt wird eine Hochzeitsszene. Die Männer schauen angespannt, manch einer mit zweifelndem Blick, den Frauen zu, wie sie um den Brautstrauß kämpfen. Es ist kein Kostüm notwendig, die Szene wirkt wahrhaftig. Die Stimmung ist gut. Lachend und zufrieden gehen alle Akteure auseinander.

Wieder unterwegs nach Wildemann. Heute ist Stefans Tochter mit dabei, sie soll sich um den Kartenverkauf kümmern. Heute ist Premiere. Wir sind nicht die ersten, die ankommen. Die Aktiven des Netzwerks Kultur und Heimat bauen ein Zelt auf, um Getränke und Schnittchen darin zu verkaufen. Die ersten Darsteller erscheinen, ziehen sich langsam um, rauchen noch eine Zigarette, gehen die Texte durch. Die Sonne scheint, Vögel zwitschern, ab und zu hört man ein Motorrad über die Serpentinenstrecken im Westharz kurven.

Alles ist bereit. Schnittchen und Karten werden verkauft, die Soundbox ist positioniert und auch die ersten Gäste sind gekommen. Allmählich werden es immer mehr. In bester Laune stehen sie in Grüppchen zusammen, Klappstühle unterm Arm, und unterhalten sich.

Als alle Darsteller bereit und kostümiert sind, beginnt das Spiel. Eine letzte Lockerungsübung, ein letztes Abschütteln der Nervosität. „So, noch einen Schnaps, bevor wir auf die Bühne gehen!“, grinst ein älterer Mime aus Wildemann, zack und los.

Hier im Wald, den Blick auf die Naturbühne gerichtet, umringt von grünen Tannen, zerschmelzen Realität und Geschichte. Es ist ganz still, nur die Blätter rascheln, und der Fluss plätschert leise. Die Schauergeschichte aus Raabes Feder reißt die Zuschauer mit: Sie schrecken zusammen, wenn Türen knarren, wenn Hunde bellen oder der Geist der Innerste schreit. Das Publikum lacht, fiebert bei tollkühnen Schaukämpfen mit und trauert schließlich um den Protagonisten des Stücks, Albrecht Bodenhagen.

Ich denke an die Geistererscheinung der Innerste im Spektakel und frage mich, ob es sie wirklich gegeben hat – die Spukgestalten und ihre gruseligen Geschichten.

Der erste Akt endet mit einer Pause. Publikum und Mitwirkende können sich etwas stärken. Erst zieht die Dunkelheit langsam herauf, dann ist es schlagartig finster. Ein Trompetenappell ruft die Gäste zusammen. Zwei Soldaten geleiten die Zuschauer durch den Wald zum nächsten Spielort. Klappstuhl untern Arm und den beiden im Gänsemarsch hinterher.

Die zweite Bühne ist eine Lichtung, nach hinten abgeschlossen von dichtem Wald und im Halbkreis aufgetürmtem Gestein. Scheinwerfer leuchten die Spielfläche aus. Plötzlich stürmen aus der Dunkelheit Räuber auf die Bühne, präsentieren stolz das erbeutete Diebesgut, singen Lieder und treiben ihren Spaß miteinander. Der zweite Akt endet mit der Festnahme der Räuber, verkündet durch die königlichen Soldaten. Die Uniformierten führen die Bande ab – und nehmen die Zuschauer auch gleich mit in Gewahrsam.

Der dritte und letzte Spielort des Wildemanner Theaterabends liegt direkt am Ufer der Innerste. Der Weg dorthin ist dunkel. Er führt einen Abhang hinunter, gesichert mit einem Seil. Das Stück endet spektakulär: nach einem wilden Kampf und einem Sprung von einer Brücke in die kalte Innerste.

Die Sektkorken knallen. Zuschauer, Schauspieler und Projektleitende treten zufrieden den Heimweg an. Vielleicht trifft man sich ja wieder – in 14 Tagen. Dann bringt das Netzwerk Kultur und Heimat den zweiten Teil des Spektakels in die Kulturlandschaft.

Text und Foto: Felix Zahn