Freie Menschen auf die Weltbühne – Kurpackung für die Götter und Berlin

„In der Zeit vor unserer Zeit lebten die Menschen gemeinsam. Sie waren einander in Liebe, Freundschaft und Fürsorge zugetan. Doch dann kam die Zeit des Wandels. Die Herrscher führten das Gold und die Schuld ein, später das Geld, den Zins und den Zinseszins. Mit einem Haus aus Lügen beherrschen sie damit im 21. Jahrhundert die Welt.“

Heute ist Uraufführung auf der Weltbühne Heckenbeck. In der ehemaligen Dorfkneipe wird erstmals „Das weiße Schiff“ gespielt. Zufällig kommt hier niemand vorbei, höchstens Reiter, denen im Einbecker Leinetal die Gäule durchgegangen sind, oder andere, die mit ihrem Traktor falsch abgebogen sind. Andernorts hetzt man bis zum dritten Herzinfarkt jeder Sekunde hinterher, hier in Heckenbeck jedoch wirkt bereits der verblichene Busfahrplan als entspannende Kurpackung: „Nur an Schultagen“. Auch das Handy schaltet hier ab. Kein Empfang. Doch leben diese entschleunigten Westharzer wirklich hinterm Berg?

Nur noch ein Bauplatz steht hier zum Verkauf, und nur noch ein einziges Haus ist zu vergeben. Und das, obwohl Immobilien doppelt so hoch gehandelt werden wie in den Nachbardörfern. Das Bevölkerungswachstum in Heckenbeck stellt alle niedersächsischen Verhältnisse auf den Kopf. Seit der Jahrtausendwende zieht die „Freie Schule Heckenbeck“ viele junge Familien an. Besonders sie hat dazu beigetragen, dass das Dorf in weniger als 20 Jahren um die Hälfte, auf nun 480 Einwohner, angewachsen ist!

„Die Grünen“, so werden die Zugezogenen mit einem Augenzwinkern von den Alt-Heckenbeckern genannt. Baumschmusende „Neu-Heckenbecker“. Grünteetrinker, Dinkelkeks-Esser und Öko-Rapper. Eine davon, das „Lila Luder“ Elisabeth, rief 2003 die Weltbühne ins Leben. „Anders als die anderen“ lautet der Wahlspruch. Mit Erfolg! Das Dorftheater ist mittlerweile so prall gefüllt wie Dolly Busters Bierablage, und das Bürotelefon lechzt nach Abkühlung. Kartenvorbestellung dringend empfohlen. Alleine die Liste der Mitmacher, Fans, Unterstützer und Künstler der Weltbühne könnte das Programmheft füllen!

Elfen schweben über dem glänzenden Parkett. Mit ihnen ihr Gesang. Eine Stimme führt, die anderen folgen. Silben einer längst vergessenen Sprache. Immer lauter und lauter. Steigern sich im rhythmischen Treppenlauf zum Kanon. Umarmen und füllen den düsteren Raum.

Arthur, Hekate und Tornada tanzen barfuß. Mr. Gogg, der Obermacker der Götter, lässt sich lüstern mit Weintrauben füttern und berät mit seiner Liebsten über die Zukunft der Erde. Sollen die Götter noch einmal eingreifen in das Schicksal der Menschen? Solange die Menschen nicht mehr an die Götter glauben, sind sie machtlos.

Unten im Erdgeschoss steht Karin hinterm Gasherd und rockt die Butter. Die Geschäftsführerin selbst köchelt am Eintopf. Carsten, zweite Hälfte der Geschäftsführung, wuchtet derweil im blauen Hausmeisterkostüm noch eine Kiste Maibock aus dem alten Schießstand. Oben setzt das Körpertheater im „Weißen Schiff“ seine Reise fort.

Die Mächtigen aus Wirtschaft und die Führer eines zweideutig amerikanischen Geheimdienstes sind unter sich. Im fahlen Bühnenlicht schließen sie geheime Abkommen mit den herrschenden Politikern, die irgendwann selbst nicht mehr wissen, wozu sie sich über Jahrzehnte hinweg verpflichtet haben. Gesichtslose in Ledermänteln marschieren im Gleichschritt. Niemand ist zu erkennen, bis „Europa-Kanzlerin Frau Dr. Murkel“ auf die Bühne tritt und ihren Mantel bis zum Kinn schließt. Das System hat funktioniert, eine ganze Zeit. Aber jetzt steht ihr das Wasser bis zum Hals. Die Armee des Dunklen umschließt sie im Kreis. Drückende Hitze. Die Luft steht im Raum. „Was sollen wir jetzt tun? Die Menschen wehren sich gegen das System! Wir können nicht mehr so weitermachen. Sie entziehen sich einfach unserer Kontrolle!“

Der Duft frischer Speisen steigt die Treppe hinauf und erregt angenehme Fantasien. Laugenbrezeln und Kartoffelsuppe sind fertig! Schnell löscht das Bier den Brand. Das Rauschen der Stimmen ebbt ab und verläuft sich in gefräßiger Stille.

Draußen, gleich gegenüber, steht das Schulgebäude im letzten Abendlicht. Warum Carsten mit seinen Kindern hergekommen ist? „Sie sollen die Möglichkeit bekommen, mehr zu werden. Dabei dürfen und sollen sie eine eigene Meinung haben. Die Schule hier ist der beste Ort dazu. Wie kannst Du mehr sein als eine Nummer in den Statistiken Berlins, wenn Du Dich von Konventionen und Zwang regieren lässt? Selbstbestimmte und freie Menschen – das ist das, was wir wollen. In der Schule, in der Gemeinschaft und auf der Bühne. Prost!“

Mit bunter Wandfarbe rufen die verspielten Lettern der Freien Schule Heckenbeck ihren Namen. Die alternative Schule will wachsen, die Weltbühne auch. Es soll noch angebaut werden. Hier, fernab der Stadt, gestalten die Menschen selbst und brauchen dabei weder Götter noch Berlin. Brauchen wir etwas aus Heckenbeck?

Text und Foto: Matthias Döring