Ein Verein schafft seine Kultur selbst

Als ich an einem frühen, sonnigen Samstagmorgen an den nördlichen Harzrand fuhr, wusste ich noch nicht, was mich dort erwarten sollte. Obwohl ich schon mal dort gewesen bin. In Liebenburg.

Liebenburg im Landkreis Goslar mit ca. 1.800 Einwohnern zählt zu einer der Gemeinden mit dem größten Bevölkerungsrückgang in Niedersachsen. Die jungen Menschen wollen in die Welt. Sie ziehen weg und lassen das Dorf langsam, aber sicher regelrecht austrocknen. Doch was passiert mit den Menschen, die nicht weg wollen? Die Menschen, die schon lange hier sind und bleiben möchten? Was gibt es neben der wunderschönen Vorharzlandschaft noch in Liebenburg, für das es sich zu bleiben lohnt? Wenn man mitbekommt, wie das eigene Umfeld schrumpft und nichts Neues mehr passiert, bekommt jeder irgendwann ein Verlangen nach Gesellschaft, Unterhaltung oder kultureller Beschäftigung. Das Verlangen der Liebenburger, hier Lücken zu füllen, wächst daher ständig.

Nach einer längeren Fahrt mit Zug und Bus steige ich an der Haltestelle Schloßstraße in Liebenburg aus. Gemächlich schlendere ich durch die sonnendurchfluteten, leeren Straßen des Orts. Hier ist es schön. Nachdem ich den Schildern zur Kirche und der alten Mühle gefolgt bin, erreiche ich mein Ziel. Die Straße ist bereits abgesperrt. Und das Geplauder vieler Menschen ist auch schon zu hören.

Direkt gegenüber einer kleinen Kirche am Rande der Gemeinde steht der alte Pfarrhof. Drei weiße Fachwerkgebäude umrahmen einen schönen rosengeschmückten Innenhof. Eines der drei Häuser war einmal die alte Pfarrscheune. Sie wurde in den 50er Jahren des vergangenen Jahrhunderts ausgebaut, und der örtliche Kindergarten fand hier für Jahrzehnte sein Zuhause. Inzwischen ist die Kindertagesstätte in einen Neubau umgezogen. Doch die alte Scheune blieb nicht lange ungenutzt. Einige engagierte Menschen schlossen sich 2008 zusammen, um etwas zu gründen, was allen Gutes bringen sollte: den Kulturverein Lewer Däle Liebenburg. Gemeinsam haben sie in mühseliger Arbeit die ehemalige Pfarrscheune saniert, um hier ihr Kulturprogramm betreiben zu können. Der Verein umfasst inzwischen über 150 Mitglieder. Ausschließlich ehrenamtlich sind die Menschen hier tätig, um miteinander und voneinander lernen zu können. Die Angebote des sogenannten „Hauses der Möglichkeiten“ kommen von den Mitgliedern bzw. engagierten Bürgern selbst. Konkrete Bedürfnisse und individuelle Fähigkeiten bestimmen das Programm. Der Hauptzweck besteht immer darin, eigene Interessengebiete wie Musik, Kunst, Theater oder Sprachen mit anderen zu teilen. Die überwiegend ältere Bevölkerung möchte sich mit Gleichgesinnten aus dem Ort austauschen, aber auch mit Menschen der jüngeren Generation, Ausländern sowie neu Zugezogenen in Kontakt treten.

Eine der Veranstaltungen der Lewer Däle ist das „Familienfrühstück unterm Kirchturm“. Es findet an einem sommerlichen Samstagmorgen statt. Direkt auf der kleinen, extra dafür abgesperrten Straße zwischen Kirche und Pfarrhof ist eine lange Tafel aus Tischen und Bänken aufgebaut, an der bereits viele Leute sitzen. Auf dem Gehweg gegenüber sitzt ein Herr auf einem Stuhl, spielt Akkordeon und singt dazu. Mir bietet sich ein harmonisches Bild an Geselligkeit, das ich in dieser Form nicht erwartet hatte. Kaum angekommen, werde ich auch schon herzlich begrüßt. Ob ich eine angenehme Fahrt hatte und ob ich denn überhaupt schon etwas gefrühstückt habe, werde ich gefragt. Kaum reagiert, bekomme ich einen Kaffee und ein kleines Frühstück serviert. Ich nehme am Ende der Tafel Platz und beschließe, die Situation erst einmal auf mich wirken zu lassen. Schnell setzen sich Neuankömmlinge zu mir, und wir frühstücken gemeinsam im Schatten der Kirche, während der Akkordeonspieler Harzer Bergbaulieder anstimmt und gute Stimmung verbreitet.

Im Vereinshaus und in der Kirche sind zeitgleich zwei kleine Ausstellungen zu sehen. Zum einen hängen im Vereinshaus Aufnahmen von Liebenburg, die die Bewohner für einen Fotowettbewerb gemacht haben. „Wir haben regelmäßig Ausstellungen“, sagt Ursula Henk-Riethmüller, die 1. Vorsitzende des Vereins. Zwei Monate später werden die Fotos von einer Aquarell-Ausstellung abgelöst werden.

Das eine oder andere Gemälde hat es dadurch sogar schon an die Wand eines Liebenburger Bürgers geschafft. Kleine feine Termine, wie man sie heute in Liebenburg mindestens viermal im Jahr wahrnehmen kann.

Die Ausstellung in der Kirche umfasst an jenem Samstagmorgen gemalte Bilder und Fotografien, die von Liebenburger Kindern stammen. Zur Feier des Familienfrühstücks werden sie heute dort gezeigt. An langen Schnüren, gespannt durch die halbe Kirche, hängen die Gemälde. Auf den Kirchenbänken liegen Fotos aus, die die jungen Liebenburger beim jährlichen Kirschblütenfest der Lewer Däle im Frühling gemacht haben. Aufgeregt rennen die Kinder zwischen den Bildern und Bänken umher und präsentieren ihren Eltern und Verwandten stolz ihre Meisterwerke. Darüber hinaus gibt es hinter dem Vereinshaus eine kleine Station zum Kinderschminken und Kreidemalen auf der abgesperrten Straße. Die Lewer Däle engagiert sich generell stark für Kinder. Neben den Ausstellungen gibt es zahlreiche Kurse, die sie hier mitmachen können. Es gibt Malkurse und Sportangebote, Töpferstunden und Musikgruppen. In Zusammenarbeit mit der ortsnahen Grundschule vergibt der Verein auch einen „Kulturführerschein“ für Kinder aller Klassen: Das sind Kulturprojekte, für die der Verein Fördermittel und Spenden einwirbt.

Das Vereinshaus bietet zwar viele Möglichkeiten, die die Menschen der Gemeinde bereits nutzen oder möglichst bald nutzen wollen. Doch trotz bereits großer Umgestaltung am Gebäude ist immer noch viel zu tun. So träumt der Vorstand schon lange vom Ausbau des Dachbodens – ein großer Raum für Lesungen und Konzerte soll hier entstehen.

Der Verein Lewer Däle Liebenburg ist stolz auf das, was er bereits erreicht hat. Einen Ort zu schaffen, an dem die Leute gemeinsam voneinander und miteinander lernen und leben können. Austausch von Alt und Jung, von Neu mit Etabliert. Auch wenn es nicht die Welt bedeutet, was hier geschieht. Das Herz und die Seele des Kulturvereins, dessen Hauptziel es ist, die Menschen zusammenzubringen und ihre kreativen Fähigkeiten zu fördern, sind zu sehen und zu spüren. Die soziale Wärme des Vereins wirkt und macht in der Region auf sich aufmerksam.

Gegen Nachmittag wird die Straße immer leerer. Die letzten Besucher helfen aufzuräumen und verabschieden sich freundlich von den anderen und von mir. Auf dem Weg zurück muss ich über vieles nachdenken. Was der Verein schon alles bewirkt hat. Wie warmherzig die Menschen miteinander umgehen. Und was die Lewer Däle noch alles bewegen können wird.

Text und Foto: Fabian Mondl