Kranich-Chroniken

Das Abenteuer beginnt

An einem warmen Sommertag im Jahr 1994 brechen Majanne Behrens und Partner Jürgen Stahmann mit ihren Kindern von Bremen aus auf in die Provinz. Eigentlich ziehen sie lediglich 30 Kilometer von ihrem alten Zuhause weg, doch trotzdem ist die Familie nun in einer neuen Welt: Klein Ringmar, einem Ort, in dem es nur 13 Häuser gibt. Darunter jener zerfallene Hof, der sich hinter einer riesigen Eiche verbirgt und in den sich Majanne auf Anhieb verliebt. Sie weiß: Hier ist sie angekommen. Hier hat die Familie Raum, sich in aller Freiheit zu entfalten.

Von Anfang an muss die fünfköpfige Familie viel improvisieren. Es gibt kein fließend Wasser; eine alte Wanne und ein Spiegel an einem Baum ersetzen das Badezimmer. Das Dach ist undicht, ein alter Zirkuswagen bietet Unterschlupf für den ersten Sommer. Majanne und Jürgen haben nicht viel Geld, beide arbeiten daher mit auf der Baustelle. Doch obwohl die Mittel knapp sind, kocht Majanne jeden Mittag für die zwölf Zimmermänner und lässt damit eine familiäre Atmosphäre entstehen.

Während Majanne viel unterwegs ist, um ihren Unterhalt mit Schauspielerei im Kinder- und Jugendtheater zu verdienen, hat Jürgen Erziehungsurlaub genommen. Beide merken jedoch schnell: Ihr Hof bietet eine gute Möglichkeit, Kulturarbeit zu betreiben. Sie entscheiden sich gegen ein geregeltes Einkommen und gründen „Das kleine Hoftheater“. Doch Konventionen und Menschen sind hier auf dem Land anders als in der Stadt. Nachbarn und Gemeinde beäugen Majanne und Jürgen bei ihren Vorhaben skeptisch.

Kraniche – Meister der Sprache

Oft stehen Menschen mit der Erwartung auf dem Hof, Theater zu sehen. Diese passive Haltung entspricht ganz und gar nicht der Konsumvorstellung von Majanne und Jürgen: „Theater ist der Begriff für die Möglichkeit, eigene Verhaltensweisen zu verändern und ein Verständnis für fremde Lebenssituationen zu schaffen. Theater ist immer ein Miteinander“. Majanne und Jürgen wollen Raum bieten, damit Menschen ins Gespräch kommen, die sich sonst nicht begegnen würden, und ein aktives Miteinander fördern. Sie wollen gegen ein festgelegtes Rollenverhalten und Schubladendenken wirken.

Im Mittelpunkt ihrer soziokulturellen Projektarbeit steht die Inklusion von Menschen, die eine besondere Fürsorge brauchen. Auf dem Hof treffen Jung und Alt, Menschen mit und ohne Behinderung aufeinander und geben sich vielfältigen Aktivitäten hin. Vom Herumtoben übers Töpfern und Jonglieren bis hin zum Theaterspielen. Den Beteiligten gelingt es, sich irgendwie zu verständigen – wenn nicht durch Sprache, dann durch Mimik oder Gebärden. Sie entwickeln sich zu Meistern der Sprache – genau wie die Kraniche, die zweimal im Jahr einige Wiesen vom Hof entfernt ihre Rast einlegen. Die afrikanische Mythologie schreibt diesen Vögeln Sprachfähigkeit zu, da Kraniche im Flug wild durcheinander trompeten. Diese jazzige Melodien hören sich nach einem intensiven Debattieren an.

Im Mittelpunkt ihrer soziokulturellen Projektarbeit steht die Inklusion von Menschen, die eine besondere Fürsorge brauchen. Auf dem Hof treffen Jung und Alt, Menschen mit und ohne Behinderung aufeinander und geben sich vielfältigen Aktivitäten hin. Vom Herumtoben übers Töpfern und Jonglieren bis hin zum Theaterspielen. Den Beteiligten gelingt es, sich irgendwie zu verständigen – wenn nicht durch Sprache, dann durch Mimik oder Gebärden. Sie entwickeln sich zu Meistern der Sprache – genau wie die Kraniche, die zweimal im Jahr einige Wiesen vom Hof entfernt ihre Rast einlegen. Die afrikanische Mythologie schreibt diesen Vögeln Sprachfähigkeit zu, da Kraniche im Flug wild durcheinander trompeten. Diese jazzige Melodien hören sich nach einem intensiven Debattieren an.

Was meins ist, ist Deins

Der Kulturverein hat weder Vereinshaus noch feste Öffnungszeiten. Das Heim der inzwischen sechsköpfigen Familie Stahmann steht allen offen, die ein aktives Miteinander leben wollen. Auf dem Hof herrscht eine warme und freundliche Atmosphäre. Die meisten Menschen, die kommen, bleiben und werden zu Freunden.

Der Reichtum, in dem die vier Kinder Felix, Mieke, Lukas und Merle aufwachsen, ist nicht finanziell, sondern zwischenmenschlich. Kompetenzen werden ausgetauscht, es gibt keine Konkurrenz, sondern gegenseitige Bereicherung. Majanne und Jürgen helfen zum Beispiel befreundeten Künstlerinnen und Künstlern, Fördermittel zu beantragen, im Gegenzug dürfen ihre Kinder das Reiten lernen.

Während die Kinder heranwachsen, tobt das Leben. Der Hof bietet wunderbare Möglichkeiten zur Entfaltung, die Jugendlichen und ihre Freunde genießen die Freizügigkeit. An der Auffahrt zum Hof gibt es zum Beispiel die Klettereiche, in der Bretter und Seile befestigt sind, die zum Schaukeln und Aussichthalten einladen.

Der große abgenutzte Holztisch in der Küche ist Dreh- und Angelpunkt des täglichen Lebens. Das Frühstück bleibt bis zum späten Nachmittag stehen. Immer wieder treffen dort alle zusammen, um den kleinen oder großen Hunger zu stillen.

Bei den Stahmanns gibt es keine konventionelle Rollenverteilungen. Majanne behauptet, Jürgen sei die bessere Mutter, er sei betulicher und strahle mehr Ruhe aus als sie. Daher kümmert sich Jürgen morgens um die Kinder, schmiert ihnen Brote, während Majanne, noch im Nachthemd, am Computer sitzt und E-Mails liest.

„Du sprichst von Dir in der 3. Person?“

„Du sprichst von Dir in der 3. Person?“, fragt Lukas seine Mutter erstaunt. In diesem Moment wird Majanne bewusst, dass sie von sich selbst als „sie“ redet, wann immer sie Tante Emma erwähnt. Beide lachen. Mit Tante Emma meint Majanne ihr Alter Ego – die älter gewordene Pippi Langstrumpf, die zwar nicht mehr die Power hat, ihr Pferd hochzuheben, aber dennoch stets aus dem Moment heraus handelt und improvisiert.

In der Figur der warmherzigen und freundlichen Tante Emma, die zu jedem ein persönliches Verhältnis hat, betreibt Majanne einen soziokulturellen Handel. Ihre Waren sind Geschichten, die sie sich von Menschen auf dem Land erzählen lässt und als Lieder wieder zurückgibt. Tante Emma greift Alltägliches aus dem ländlichen Leben auf: Als Aufsichtsbehörden und Saatguthersteller die Kartoffelsorte Linda vom Markt nehmen wollten, entstand daraus ein Song.

Stahmanns Hof liegt abgelegen. Majanne besorgt sich daher einen umgebauten Verkaufswagen und fährt damit zum Markt, zu Seniorentreffen und zum Waldkindergarten, in den auch zwei ihrer Kinder gegangen sind. Aber Tante Emma entfernt sich von der Idee des kleinen Kaufmannsladens. Sie reist als Sympathieträgerin übers Land, bringt Menschen ins Gespräch, lenkt den Blick der Anwohner auf das Leise und Stille des alltäglichen ländlichen Lebens.

Ungewisse Zukunft

Majanne ist nicht nur Kunst- und Kulturschaffende, sondern auch Unternehmerin. Sie kümmert sich neben der Verwirklichung der verschiedenen Projekte auch um Akquise und Fördermittel. Viele Projekte jedoch realisieren Majanne und Jürgen unentgeltlich. Die Übergänge zwischen Projektarbeit und privatem Alltag sind fließend. Die beiden leben ihre Leidenschaft zu Kunst und Kulturarbeit in jedem Moment. Aus Alltag wird Kunst und aus Kulturarbeit Leidenschaft. Alles ist untrennbar verknüpft – symbolisch im Stahmannschen Klavierhocker: Wenn der mal nicht zum Musikmachen gebraucht wird, dient er als Arbeitsplatz im Stahmanns Transporter – eingeklemmt zwischen Fahrer- und Beifahrersitz im Führerhaus.

Der Verein „Sinnstiftung Kranichschreie“ bekommt zwar Fördergelder, aber meistens reichen diese nicht aus. Majanne und Jürgen kämpfen ums Überleben. Davon lassen sie sich aber nichts anmerken. Nach außen sind sie nach wie vor offen und äußerst gastfreundlich. Nur manchmal wird Majanne plötzlich ganz still und klein. Als entwiche ihr alle Hoffnung. „Was ist, wenn wir den Kulturverein aufgeben müssen?“, fragt sie sich dann.

Sie kennt die Antwort, auch wenn sie sie nicht ausspricht: Dann verschwände nicht nur ein Angebot und ein Freiraum für Kunst und Kultur, sondern auch eine Utopie von einem anderen Leben.

Text und Foto: Ann-Sophie Lindström