Die Wiedergeburt der Schwedenprinzessin

Gespannte Stille – dann aus der Entfernung ein leises Klingeln, vielleicht von Glöckchen. Schließlich setzt Musik ein. Das Pfeifen des Dudelsacks, begleitet von melodischem Flötenklang, verkündet das Erscheinen – ihr Erscheinen. Eine Dame stolziert in die Gruppe der rund 30 Zuschauer auf dem Marktplatz. Publikum und Musiker scheint sie bewusst zu ignorieren. Sie erklimmt die kleine Empore am hinteren Ende des kopfsteingepflasterten Marktplatzes. In ihrem Rücken die gelbe Manningaburg samt Burggraben und vom Sommer grün gefärbte Bäume. Unzählige Lagen von bordeauxfarbenem Samt umfließen den Körper der Dame. Im Hintergrund noch immer die Klänge längst vergessener Instrumente – Lauten, Dudelsäcke, Klangspiele – und das wehmütige Klagen eines Chors. Darunter mischt sich das leise, doch stete Klimpern ihrer üppigen Perlenketten. Schnell ist klar: Die Frau gehört nicht in unsere Zeit. Als sie lebte, wurde Europa noch von Kaisern und Königen regiert. Sie ist eine schwedische Prinzessin – Katharina von Wasa.

Pewsum, Ostfriesland, 2013. Wir befinden uns in einem 3.000-Einwohner-Dorf nicht unweit von der Nordseeküste. Reetgedeckte und rot verklinkerte Friesenhäuschen. Nicht zu vergleichen mit einer Großstadt. Kein Ort für eine schwedische Prinzessin.

Plötzlich durchschneidet eine scharfe Stimme die gespannte Stille. „Jetzt, wo es etwas zu essen gibt, seid ihr also hier?“, brüllt die Frau auf der Empore der Menge ins Gesicht. Sie lächelt zufrieden. „Ich bin Katharina von Wasa. Mein Vater verheiratete mich vor über 500 Jahren an einen ostfriesischen Grafen. Für einen Kriegshafen!“, vor Empörung überschlägt sich ihre Stimme.

Für die Reise in die Vergangenheit ist die Ländliche Akademie (LAK) verantwortlich. Der Verein kümmert sich seit 30 Jahren um alle kulturellen Bedürfnisse der Gemeinde Krummhörn: Musik, Theater und Kunst. Die neuste Theaterreihe läuft unter dem Namen „Dörfer erzählen Geschichten“. Darin vereint sind Schauspiel, Musik und Gästeführung. So leben längst vergessene Geschichten dieser Gemeinde, in der auch Pewsum liegt, wieder auf. Das Projekt dient jedoch nicht nur der Unterhaltung, erklärt Christine Schmidt, Leiterin der Ländlichen Akademie. „Die Touristen pilgern vor allem ins Fischerdorf Greetsiel – dabei lässt sich in den anderen Ortschaften auch sehr viel erleben“, erzählt sie. Um die Urlauber aus dem Touristen-Hotspot zu locken, wird nun erstmals ein Erzähltheater angeboten. Hierbei verkörpern Schauspieler Charaktere, die einmal in der Gemeinde lebten. So wird aus Lokalgeschichte Unterhaltung. Denn: „Wissen lässt sich am besten vermitteln, wenn dabei Bilder im Herzen entstehen“, ist sich Schmidt sicher.

Und genau deshalb führt Katharina von Wasa die Zuschauer nun auch in ihr ehemaliges Zuhause – die Manningaburg in Pewsum. „Sie wurde von meiner Mitgift bezahlt, also ist es auch meine“, sagt sie. Die Karawane aus Schauspielern, Musikern und rund 30 Zuschauern setzt sich Richtung Burg in Bewegung. Begleitet von den letzten Tönen der Musikanten erhebt Katharina von Wasa erneut ihre Stimme: „Mir ist es schwergefallen, mich bei euch, Ostfriesen einzuleben.“

Die Frau im Prinzessinenkostüm ist Anke Pfeffer. Sie engagiert sich seit fünf Jahren bei der LAK, lebt aber schon seit ihrer Kindheit für das Theater: „Ich habe schon früh meine Leidenschaft für das Schauspielern entdeckt. In der Realschule spielte ich in einer Theatergruppe mit.“ Nach der Schulzeit beim Theater zu bleiben, ist in Ostfriesland gar nicht so einfach. Denn die Ostfriesin Pfeffer spricht kein Plattdeutsch. Ohne Dialekt geht im Nordwesten aber kaum eine Theatergruppe auf die Bühne. Denn was dem Schwaben sein Schwäbeln, das ist dem Ostfriesen sein Platt. „Wer kein Plattdeutsch spricht, wird nicht in die Theatergruppen aufgenommen. So war das auch bei mir“, erinnert sie sich. Ganz anders bei der LAK. Willkommen ist jeder, der Lust und Zeit hat. Genau deshalb spielt auch Anke Pfeffers Mann Stephan Langner in der Theaterreihe „Dörfer erzählen Geschichten“ mit. Er verkörpert den Kuriositätensammler Friedobard Barsch, der die Zuschauer in Frack, Zylinder und rot-gelbem Schal durch eine Auswanderergeschichte führt.

Hat Katharina von Wasa das Publikum eben noch angeblafft, wird ihre Stimme ganz weich, wenn sie von ihrem Ehemann spricht. „Ich sang immer ein Lied für ihn. Wollt ihr es hören?“ Und natürlich wollen die Zuschauer. So beginnt sie – auf Plattdeutsch. Denn auch Nicht-Platt- Sprecherin Anke hat mittlerweile ein paar Brocken alten friesischen Sprache aufgeschnappt: „In mienet Leevsten Huuse, daar steiht von Gold een Schrien. Daar binnen liggt verschloten dat junge Harte mien“.

„Geschichte gehört zu unserer Kultur, wir sollten sie bewahren“, erzählt Chorleiterin Irina Ignatov. Unter diesem Motto entstand in den vergangenen Jahren auch das Stück „Achter Kolle Mürren“ (Hinter kalten Mauern) – eine Geschichte über Hexenverbrennung. Mitspielen konnte jeder: Landwirte, Ärzte, Schüler, Senioren und noch viele mehr – das steht immer an erster Stelle.

Katharina von Wasa ist mittlerweile in der Kirche angekommen. Langsam setzt die Abenddämmerung ein. Das Rot der untergehenden Sonne brennt auf den Kronleuchtern, setzt das Kirchenschiff scheinbar in Flammen. In diesem Sonnenfeuer erzählt die Prinzessin wehmütig vom Tod ihrer Tochter und dem ihres Mannes. Und dann ist die Vorstellung vorbei. Doch für Anke Pfeffer, Christine Schmidt, Irina Ignatov, die Chöre, die Musiker und all die anderen Beteiligten geht die Show weiter. Die Projektreihe „Dörfer erzählen Geschichten“ läuft noch bis in den Herbst. Und danach? Ja, danach wird sicherlich etwas Neues starten. Denn Langeweile gibt es bei der Ländlichen Akademie nicht.

Text: Annika Schneid
Foto: Fernando Gutiérrez Juarez